URL: http://www.spiegel.de/reise/europa/0,15 ... 72,00.html
Fortsetzung folgt ...EISBRECHER AUF DER FINNISCHEN OSTSEE
Die Maschinen wummern in Disco-Lautstärke, krachend birst das Eis: Vor der Küste Finnlands sorgen neun Eisbrecher dafür, dass der Seehandel im Winter nicht einfriert. Die "Sisu", 22.000 PS, fünf Motoren, ist einer von ihnen. Logbuch einer schlagkräftigen Woche an Bord.
Timo lässt es krachen. Das Eis zerbirst am Bug, wird zur Seite geschleudert, und was eben noch fest miteinander verzahnt war, wirbelt gehäckselt um die Bordwand. Bis sich die Stücke im Kielwasser wieder vereinen, können andere Schiffe folgen - wenn sie sich beeilen, denn die "Sisu" pflügt gerade mit 17 Knoten, das sind gut 30 Stundenkilometer, durch die zugefrorene Ostsee. Am Ruder freut sich Timo über reichlich Action nach ruhigen Tagen.
Vor einer Woche sind wir uns erstmals begegnet. Die "Sisu" hatte an der Eisbrecher-Pier in Helsinki-Katajanokka festgemacht, die Hälfte der Mannschaft war von Bord gegangen, dafür waren andere gekommen. Ebenfalls neu war das MERIAN-Team: Fotograf Walter Schmitz und ich, der sich gleich nach dem Bezug der Kajüte seebärig aufs Oberdeck stellte, gegen zehn Grad minus und den frostigen Wind beschützt von Winterjacke, Mütze, Schal. "Auf zum Pol!", riefen Scott und Amundsen in mir, "Leinen los!"
Da ging die Tür auf und mir trat ein Mensch entgegen, der bis auf ein lächerliches Handtuch um die Lenden völlig nackt war. Nicht mal Latschen trug der Kerl. Er streckte dem Weichei seine Hand entgegen und stellte sich vor: "Timo Aaltonen, Chief Officer". Kein Zweifel, dies war ein finnisches Schiff, und wir sollten es in den nächsten Tagen mit Leuten zu tun haben, die einen guten Teil ihres Lebens im Dampfbad verbringen.
Die "Sisu" hat zwei Saunen an Bord, einen Pool und einen Fitnessraum. Für den Geist gibt es eine Bibliothek, für den Magen eine Küche, die jeden Kantinentest mit Bravour besteht, und für die Ohren fünf Maschinen mit zusammen 22.000 PS. Das Kraftpaket könnte einer Kleinstadt über den Ausfall ihres E-Werks hinweghelfen, treibt zwei Schrauben hinten und zwei vorne an und säuft im Normalbetrieb durchschnittlich 80 Tonnen Diesel. Täglich.
Nicht ganz so viel an jenem 21. März, als wir am späten Nachmittag endlich ablegen und Kurs Süd nehmen, einen Tag nach Frühlingsanfang. Dem nordischen Winter sind kalendarische Eckdaten egal, das Eis vor der Küste hält sich meist bis Ende Mai. Finnland ist das einzige Land der Welt, dem selbst in milden Wintern sämtliche Häfen zufrieren. Da der Außenhandel zu mehr als 80 Prozent über See abgewickelt wird, sind die neun finnischen Eisbrecher die Herzschrittmacher der Wirtschaft.
Hinzu kommt, dass gleich vor der Haustür die Hauptschlagader des russischen Ölexports verläuft: Von Primorsk bei St. Petersburg, dem Endpunkt von Pipelines aus ganz Russland, fahren Supertanker westwärts, die meisten mit Ziel Rotterdam. Manche haben mehr als 100.000 Tonnen Schweröl geladen und sind nach internationalen Maßstäben wenig eistauglich. Die Havarie eines solchen Riesen wäre gleichbedeutend mit dem ökologischen Infarkt der finnischen und estnischen Küste und hätte unabsehbare Folgen für die gesamte Ostsee.
Die schwimmenden Zeitbomben ziehen ihre Bahnen in der eisfreien Hauptfahrrinne, als die "Sisu" nach zweistündiger Fahrt in leichtem Eis in Stand-by-Stellung geht, mitten im Finnischen Meerbusen. Ein Eisbrecher ankert nicht, er lässt sich zufrieren. Die Nacht ist sternenklar, voraus sieht man den Lichterschein von Tallinn, achtern den von Helsinki. In der Kabine sind es 22 Grad plus, an Deck 15 minus.
Am nächsten Tag gibt es keinen Einsatz, eine gute Gelegenheit, sich gründlich umzusehen. Die Brücke des 1976 gebauten Eisbrechers wurde in den letzten Jahren technisch aufs höchste gerüstet. Monitore mit Radarbildern - ein Laie kommt damit nicht klar. Da sind die Bildschirme mit den Seekarten viel aufschlussreicher. Kleine Kegel zeigen die aktuelle Position der Schiffe in der Umgebung. Ein Mausklick verrät Namen, Typ, Maße, Ziel der Reise und, ganz wichtig, die Geschwindigkeit. Bei weniger als acht Knoten hat das Schiff in der Regel ein Problem - entweder einen Maschinenschaden, oder, viel wahrscheinlicher, es droht im Eis stecken zu bleiben. Dann fragt die "Sisu" über Funk nach und eilt, wenn nötig, zur Hilfe. In normalen Fällen bedeutet das Freibrechen, in ernsteren auch schon mal Abschleppen. Den Eignern der betroffenen Schiffe entstehen dafür keine Kosten, die trägt die staatliche Reederei Finstaship.