Ganz ehrlich finde ich deine drei Beispiele für Dinge die du in Finnland nicht erhalten hast bzw. in dem einen oder anderen Geschäft nicht zu haben oder unbekannt sind nicht als Beweis dafür, dass das Land wenig innovativ ist oder sich technisch gesehen gar hinter dem Mond befindet. So definiere ich jedenfalls deine Meinung. Garantiert erhältst du die von dir genannten Dinge in Fachwerkstätten und Betrieben der größeren Städte, in kleineren Orten auf Bestellung. Bedenke, dass Finnland außerhalb von Helsinki, Turku und einigen anderen größeren Städten nur aus kleineren Ortschaften besteht. Wer braucht da ein Spezialwerkzeug oder ein Nebenstromfilter wie du sie beschreibst?
Ich kenne Finnland nur aus vielen Besuchen seit 1977. Ja ich weiß, dass Finnland den Überfluss der in Deutschland normal ist nicht kennt. Dies trifft aber für viele andere EU-Staaten genau so zu. Besuche ich in Finnland einen Baumarkt oder einen Baustoffhandel staune ich nicht schlecht, mit wie wenig Auswahl an Baumaterial da gearbeitet wird. Wenn ich da gewöhnliches HT-Rohr in vier Stärken finde ist das schon viel. Bei unserem Hornbach sind es ungefähr 13! Dann die geradezu unzähligen verschiedenen Sanitärartikel wie Waschtische, Duschabtrennungen, Armaturen… Das Angebot ist da in Deutschland geradezu gigantisch. Dagegen ist Finnland fast DDR. Selbst das Angebot an finnischen Tulikivi oder NunnaNuuni Öfen erscheint mir in Deutschland größer.
Deutschland ist eben ein Überflussland während sich der Finne eher auf das Wesentliche konzentriert. Dies ist jedenfalls meine Beobachtung. Dies habe ich aber nie als nachteilig empfunden. Unsere Vielfalt an Waren ist in meinen Augen einfach überflüssig und macht die Waren nur teuer.
Das weniger an Waren macht Finnland aber ja technisch nicht zum Entwicklungsland. Vielleicht setzt Finnland ja andere Prioritäten, z.B. im digitalen Bereich? Da ist Deutschland z.B. geradezu ein Entwicklungsland und muss z.B. im wichtigen Netzwerkbereich und Mobilfunkbereich auf Technik von Nokia (Finnland), Ericsson (Schweden) und Huawei (China) zurückgreifen. Schau dir in diesem Zusammenhang den Mobilfunk in Finnland an. Ich habe das Gefühl, dass da auch der einsamste Elch über schnelles Internet verfügt. Ich staune jedesmal nicht schlecht, wenn ich selbst in den einsamsten Ecken mit einer SIM-Karte von Telia für weniger als 20 Euro 30 Tage non limit surfen oder deutsches Fernsehen in HD streamen kann wo ich in Deutschland noch nicht einmal über ein Funknetz verfüge und per Kabel keine 10 MB/s.
Dann wäre da noch die Entwicklung von Quantencomputern des finnischen Unternehmens IQM zu nennen und viele andere technische Unternehmen die für Fortschritt und Innovation stehen.
Das Handelsblatt beschrieb bereits 2019 Finnland als den Hotspot der europäischen Start-up-Szene. In Anbetracht der Tatsache, dass Huawei erst in den USA und jetzt auch in Europa in Verdacht geraten ist ihre in der westlichen Welt verbaute Netzwerktechnik im Auftrag der Regierung für Spionagezwecke zu missbrauchen wird Nokia vermutlich zu einem zusätzlichen Aufschwung verhelfen.
Aber es ist müßig, Finnland mit Deutschland oder anderen europäischen Staaten zu vergleichen. Finnland bietet für jeden etwas genau so wie Deutschland, Norwegen oder Portugal. Man kann da nicht verallgemeinern. Auch hat jeder Mensch bzw. Auswanderungswillige andere Wünsche und Vorstellungen. Ob in einer Fahrradwerkstatt nun ein modernes Prüfgerät für die Speichenspannung genutzt wird oder ein Öl-Nebenstromfilter für Motorsportler in jeder KFZ-Werkstatt zu haben ist wäre für mich völlig egal.
Und selbstverständlich bietet Finnland gute Arbeitsbedingungen und Aufstiegsmöglichkeiten in gut dotierten Arbeitsbereichen. Die Arbeitsfelder sind vielleicht nicht so breit gestreut, das ist richtig. Finnland ist verhältnismäßig klein und bietet nicht so viele Möglichkeiten wie eine Industrienation Deutschland. Nur sehe ich das nicht grundsätzlich negativ. Entweder gibt es da für den Auswanderungswilligen Möglichkeiten oder nicht. Wo ist da ein Problem? Wenn ich keine Zukunft für mich in Finnland sehe wandere ich nicht dahin aus.
Und was die Berufsausbildung betrifft: Da mag es Unterschiede geben. Was das Handwerk betrifft ist der Auszubildende sicher in Deutschland sehr gut aufgehoben, obwohl es da auch Nieten im Ausbildungsbereich bei uns gibt und auch gute Beispiele in Finnland. Im Hochschulbereich wiederum erscheint mir Finnland einen Vorsprung zu haben. Dies kann ich zumindest für den pädagogischen Bereich (Lehramtstudium) sagen.
Etwas anderes ist es mit der sozialen Integration. Da tun es sich nicht wenige Deutsche und Menschen anderer Nationen schwer. Mit der finnischen Mentalität kommt nicht jeder Deutsche zurecht. Mehr als in anderen europäischen Staaten ist ein wenig Zurückhaltung und auch Respekt geboten. Mit dem Kumpelgehabe welches vielen Deutschen zu eigen ist liegt man in Finnland völlig daneben. Zurückhaltung und Anpassung ist angesagt, jedenfalls anfangs. Sonst bleibt man sein Leben lang „der Deutsche“.
Also zu sagen „Finland is not for the ambitious“ ist zu einfach gedacht. Was ist dann wohl erst Liechtenstein oder Andorra?
Und abschließend: Ich mag Finnland und die Finnen so wie sie sind. Aber ich kann auch so sein wie ein Finne und mit ihm stundenlang in der Sauna verharren ohne etwas zu sagen um mich danach bei der Verabschiedung für den unterhaltsamen Abend zu bedanken. Alle Vor-und Nachteile abwägend wäre Finnland für mich zu einem früheren Zeitpunkt als Auswanderungsland infrage gekommen. Tatsächlich hätte ich das auch gemacht wenn meine Frau auch gewollt hätte. Es hätte ja nicht gleich Inari sein müssen.
https://www.handelsblatt.com/technik/it ... 55832.html