Finnland im Wandel der Zeit

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André
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#76 Re: Finnland im Wandel der Zeit

Beitrag von André »

Es geht ja auch um das Narrativ über den Krieg in der Gesellschaft welches sich über Generationen hinweg erhält. Wenn man das Arktikum in Rovaniemi besucht, dann gibt es dort eine Ausstellung "Vom Freund zum Feind", oder so ähnlich, in welcher das Verhältnis zu den deutschen Soldaten im Ablauf des Krieges dargestellt wird. Im Untergeschoss läuft in Dauerschleife ein Film über die Zerstörungen in Lappland nach dem Rückzug der deutschen Armee. Als Deutscher schämt man sich, wenn man diese Ausstellungen sieht, selbst wenn meine eigenen Vorfahren teils aktive Widerständler gegen das NS-Regime waren. Für Nachkommen Betroffener baut sich damit ein Feindbild vom bösen Deutschen auf. Die Samis hat es ohnehin sehr erwischt. Die Truppenbewegungen fanden alle ohne ihre Zustimmung statt. Es kam zu Beziehungen aus denen viele letztlich vaterlose Kinder und die damit einhergehenden Stigmatisierungen hervorgingen. Und schließlich zur Unzeit, mitten im Winter Zerstörung, Vertreibung und der culture clash. Auch wurden samischen Männer während der Kriegszeit in die Armee gepresst, wo sie teils gegen andere Samen an der russischen Grenze kämpfen mussten. Es ist viel vorgefallen in der Zeit. Diese Jahre haben zu einem nationalen Trauma geführt und die Aufarbeitung und Differenzierung dauert lange.

Im Süden Finnlands ist man schon lange weiter. Dort gibt es in den letzten Jahren zunehmend Literatur in der das Verhältnis Finnlands zum 3. Reich kritisch analysiert wird. Auch das wird Wurzeln schlagen, wenn man nicht mehr nur die eigene Opfer- und Heldenrolle hervorhebt, sondern auch Stellung zur Mittäterschaft nimmt.

Viele Länder haben ein eigenes Deutschlandnarrativ. Ich bin oft verblüfft mit welcher Überzeugung mir Leute aus anderen Ländern erzählen wie toll sie Hitler finden oder unpassende Witze machen, sobald sie hören, dass ich Deutscher bin. In vielen Ländern gelten Deutsche aber vor allem (und zwar nicht zu Unrecht) als arrogant und vermögend.
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Syysmyrsky
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#77 Re: Finnland im Wandel der Zeit

Beitrag von Syysmyrsky »

André hat geschrieben: 14. Feb 2022 08:33 Im Süden Finnlands ist man schon lange weiter. Dort gibt es in den letzten Jahren zunehmend Literatur in der das Verhältnis Finnlands zum 3. Reich kritisch analysiert wird. Auch das wird Wurzeln schlagen, wenn man nicht mehr nur die eigene Opfer- und Heldenrolle hervorhebt, sondern auch Stellung zur Mittäterschaft nimmt.
Allmählich scheint sich bezüglich Aufarbeitung in Finnland wirklich etwas zu tun, nachdem die Themen den Zweiten Weltkrieg betreffend lange tabuisiert wurden. Es war ja nicht nur die Kollaboration mit Nazi-Deutschland bis zu dem Zeitpunkt, als der Waffenstillstand von Moskau besiegelt wurde (Vertragsbestandteil war die Verpflichtung Finnlands, die in Finnland stationierten deutschen Truppen anzugreifen, mit denen man bis dahin ein formales Militärbündnis eingegangen war - was dann schlussendlich zum Lapplandkrieg führte). Auch Finnland hatte seine Rassenideologie, man sprach von der "degenerierten samischen Rasse". Selbst nach dem Krieg hörte die rassistische Unterdrückung nicht auf. Kinder wurden von ihren Familien getrennt und in Internate geschickt, in denen sie ihre samischen Wurzeln und Traditionen vergessen und an die finnische Kultur angepasst werden sollten. Parallelen zum Schicksal der indigenen Bevölkerung in Kanada und den USA sind nicht von der Hand zu weisen.

Hier tut sich in Finnland literarisch einiges. Nachdem bereits Katja Kettu mit ihrem Roman "Rose on poissa" (in Deutschland unter dem Titel "Die Unbezwingbare" erschienen) das Schicksal der indigenen Bevölkerung Nordamerikas thematisierte, tat dies vor kurzem auch Petra Rautiainen zum Thema der samischen Bevölkerung im Norden Europas in ihrem Roman "Tuhkaan piirretty maa" (in Deutschland unter dem Titel "Land aus Schnee und Asche" erschienen). Petra Rautiainen studierte Geschichte und Kulturwissenschaft und promoviert aktuell über die mediale Repräsentation der Sami.

Auch das von André angesprochene Thema der finnischen Kinder von Wehrmachtssoldaten und deren Stigmatisierung findet inzwischen mehr Platz in der Öffentlichkeit. Das Buch "Born of War - Vom Krieg geboren" handelt von diesem lange Zeit tabuisierten Thema: Europas verleugnete Kinder. Kinder, die vom nördlichsten Lappland bis hin nach Südeuropa von deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs gezeugt wurden (häufig in ernst gemeinten Liebesbeziehungen). Das Buch beinhaltet gesammelte Geschichten von den sogenannten Wehrmachtskindern aus den verschiedensten Ländern Europas und es ist die erste Veröffentlichung in einem gesamteuropäischen Rahmen. Irja Wendisch recherchierte bereits in früheren Jahren zu diesem Thema und brachte im Jahre 2006 in Finnland ein Buch heraus ("Salatut lapset: saksalaissotilaiden lapset Suomessa"), aus dem für "Born of War - Vom Krieg geboren" drei Geschichten ausgesucht wurden.

Im Deutschlandfunk gab es auch mal einen interessanten Artikel:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/we ... r-100.html
Hinter einem denglisch-babylonischen Sprachgewirr kann man sich wunderbar verstecken, Wissenslücken vertuschen und Kompetenz vorgaukeln.
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Sapmi
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#78 Re: Finnland im Wandel der Zeit

Beitrag von Sapmi »

Die Diskussion nimmt wirklich eine interessante Wendung. Zunächst ist das Thema Rassismus (ob nun gegen Nationalitäten wie die deutsche aufgrund der düsteren Geschichte oder einzelner schlechter Erfahrungen mit Vertretern bestimmter Länder oder gegen andere Ethnien wie Urvölker) zwar nichts speziell Finnisches. Aber es gehört natürlich auch dazu und Vieles hat bis heute Einfluss auf das tägliche Leben. Was die Deutschenkinder angeht, kenne ich mich in Finnland, ehrlich gesagt, nicht so aus, dafür etwas in Norwegen, da ich einen samischen Bekannten (in/aus Kautokeino) habe, der selbst „tyskebarn“ ist und mir darüber mal Einiges erzählt hat (in den Medien gibt es natürlich auch genügend Infos dazu, z. B. https://www.dw.com/de/kinder-der-schand ... a-329043-0)
Natürlich wurden die Frauen, die sich damals mit den deutschen Soldaten "eingelassen" hatten, hinterher als „Deutschenhuren“ bezeichnet und die Kinder wurden gemobbt. Und im Falle von samischen (und somit also „genetisch minderwertigen“) Frauen waren die entstandenen Kinder ja noch nicht mal „verwertbar“ (als arisches "Material"). Das ist schon alles extrem widerwärtig gewesen. Mein Bekannter ist dadurch zum Glück nicht zum Deutschenfeind geworden, im Gegenteil, er hat bis vor knapp 15 Jahren einen Campingplatz geführt und dadurch natürlich u.a. auch viele Deutsche kennengelernt und spricht auch etwas Deutsch. Irgendwann ist es ihm gelungen, seinen jüngeren Halbbruder in Berlin ausfindig zu machen, aber dieser wollte mit ihm nichts zu tun haben.

Was die Entwicklung des allgemeinen Umgangs des finnischen Staates mit der samischen Urbevölkerung angeht, da geht es tatsächlich allmählich voran. Im vergangenen Jahr wurde eine spezielle Kommission dazu gebildet, hier auf Englisch: https://vnk.fi/en/truth-and-reconciliat ... ami-people

Wenn wir aber schon beim Rassismus sind, sollte man eigentlich auch das Thema Immigranten mit ansprechen: Diesbezüglich wird ja den Finnen oft nachgesagt, sie seien verschlossener/abweisender als beispielsweise ihre nordischen Nachbarn. Allein schon der Anteil an Immigranten aus den einschlägigen südlichen/orientalischen Ländern scheint ja auch deutlich geringer zu sein als z. B. in Schweden oder auch Norwegen. Und natürlich gibt es auch eine knallharte Neonazi-Szene in FIN, aber ist es dort wirklich stärker als in anderen europäischen Ländern? Oder hat jemand irgendeine Entwicklung im Laufe der letzten Jahrzehnte beobachtet?
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St.Nitzsche
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#79 Re: Finnland im Wandel der Zeit

Beitrag von St.Nitzsche »

Ich konnte persönlich kaum eine Abneigung gegen uns Deutsche war nehmen. Als Tourist sogar sehr Willkommen in vielen Bereichen.
Wir wurden nur einmal in Lappland von einen angetrunkenen Norweger angepöbelt als Nazis...Naja, nicht so schlimm.
Es gibt in jeden Land Solche und Solche. Auch Ausländer. Manchmal sogar lustig wenn man irgendwo in der Wildnis eine Truppe Asiaten oder Südamerikaner trifft. Da fragt man sich schon was.....weil man auch sieht das sie keine Touris sind.
Trotzdem finde ich es gut (wie auch in D) das dort viele Südländer in kleinen Gemeinden oder Städten eine Pizzeria, Imbiss oder Kneipe betreiben. Das bringen die Jungs schon. Nicht gut finde ich wenn in Norwegen in einigen Regionen (auch Land) die Einheimische Bevölkerung in der Minderheit ist. Da geht der Charme und alte Kultur verloren. Und auch die Samen sollen ihr Recht haben und leben wie es ihnen zusteht. Auch wenn sie anders sind.
Mich haben die Doku-Bücher vom Schweizer Hans Ulrich Schwaar sehr beeindruckt.
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Sapmi
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#80 Re: Finnland im Wandel der Zeit

Beitrag von Sapmi »

St.Nitzsche hat geschrieben: 16. Feb 2022 19:16 Nicht gut finde ich wenn in Norwegen in einigen Regionen (auch Land) die Einheimische Bevölkerung in der Minderheit ist. Da geht der Charme und alte Kultur verloren. Und auch die Samen sollen ihr Recht haben und leben wie es ihnen zusteht.
Naja, in den samischen Gebieten sind die Sámi die ursprünglich Einheimischen und mittlerweile auch in den allermeisten Regionen in der Minderheit, wodurch ein Teil der alten Kultur verloren geht. :wink:
Mich haben die Doku-Bücher vom Schweizer Hans Ulrich Schwaar sehr beeindruckt.
Ja, die sind klasse, müsste ich auch mal wieder lesen. :elch:
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