Finnischer Bürgerkrieg 1918

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Syysmyrsky
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#1 Finnischer Bürgerkrieg 1918

Beitrag von Syysmyrsky »

Neues Deutschland, 24.05.2008

Wilde Massaker an den Roten - Der finnische Bürgerkrieg vor 90 Jahren

Von Andreas Knudsen

Am 15. Mai 1918 war der letzte Widerstand gebrochen, Finnlands kurzer Bürgerkrieg beendet. Doch er warf lange Schatten auf das 20. Jahrhundert. Neue Forschungen enthüllten höhere Todeszahlen als bisher angenommen.
Der Ausstieg Russlands aus dem Ersten Weltkrieg und die Doppelherrschaft des Sommers 1917 hatte Finnland die Möglichkeit eröffnet, die Unabhängigkeit zu erringen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der Krieg bereitete, sowie der Russifizierungsprozess, dem die Finnen in den letzten 30 Jahren der Zarenherrschaft ausgesetzt waren, hatten den Wunsch nach Unabhängigkeit quer durch alle Klassen geweckt. Am 31. Dezember 1917 anerkannte die Regierung der Bolschewiki nach längeren und harten Verhandlungen die Unabhängigkeit Finnlands und die Abgesandten der bürgerlichen Regierung kamen nach Hause in der Hoffnung, die Herrschaft über das Land übernehmen zu können.

Doch die Unsicherheit der vergangenen Monate und der faktische Zusammenbruch russischer Herrschaft hatte staatliche Strukturen und insbesondere Polizei und Armee zusammenbrechen lassen. Um sich vor Gewalt und Repressalien zu schützen, waren rote und bürgerliche Selbstschutzgruppen gebildet worden, die die Keimzellen der Roten und Weißen Garden bilden sollten. Die bürgerliche Regierung beschloss am 12. Januar 1918 die Aufstellung einer Polizei. Dies wurde durch die Roten Garden als Signal aufgefasst, dass die gewaltsame Auflösung der Räte, die nach dem Vorbild Sowjetrusslands in vielen finnischen Städten eingerichtet worden waren, bevorstand. Der Mangel an Waffen auf beiden Seiten verzögerte den Beginn bewaffneter Auseinandersetzungen, doch Ende Januar sprang der Funke über.

Die Roten Garden befanden sich in den ersten Wochen der Revolution in einer vorteilhaften Position. Sie kontrollierten den südlichen, industrialisierten Teil Finnlands, einschließlich Helsinki, und hatten Sowjetrusslands Unterstützung. Die Lieferung von Waffen und Unterstützung mit Truppen boten der bürgerlichen Regierung in Vasaa die propagandistische Munition, das bürgerliche Finnland und insbesondere die landbesitzende schwedische Minderheit zu den Waffen zu rufen.

Die radikalsten Linken hatten sich nach der bürgerlichen Machtübernahme im Dezember 1917 für den Verbleib bei Sowjetrussland als der Heimat aller Arbeiter und Bauern ungeachtet nationaler Zugehörigkeit entschieden. Doch die Mehrheit der finnischen Rotgardisten und der Sozialdemokratischen Partei, die sich ebenfalls für die Revolution entschieden hatte, wünschte weiterhin ein unabhängiges Finnland. Die Spaltung der Linken Finnlands nach dem Bürgerkrieg in Sozialdemokraten und linke Sozialisten auf der einen Seite und die Kommunistische Partei als Teil der Komintern hatte hier ihren fassbaren Beginn.

Finnische Historiker sprechen von etwa 4.000 russischen Soldaten auf der Seite der Roten Garden. Die Roten Garden umfassten insgesamt etwa 50.000 bis 90.000 Mann, einschließlich der Hilfs- und Unterstützungsgruppen. Es war jedoch nicht die Anzahl russischer Soldaten, die entscheidend war, sondern die Beratung durch Kommissare, die ihre Kriegserfahrungen in der zaristischen Armee gesammelt hatten.

Die Weißen Garden waren zahlenmäßig etwa gleich groß und wurden Ende Januar offiziell zu Finnlands nationaler Armee erklärt. Sie hatten mit ihrem Gegner gemein, dass ihre Soldaten nur über wenige Tage oder maximal einige Wochen Kampftraining verfügten. Eine Ausnahme bildete allerdings eine Truppe von rund 1.300 Jägern (Jääkärit), die während der Weltkriegsjahre in Deutschland ausgebildet und an der Ostfront gegen die russische Armee eingesetzt worden waren. Der Oberbefehlshaber der finnischen Armee, General Mannerheim, und sein Stab waren erfahrene Kommandeure, die in der Zarenarmee gedient hatten. Ihre Fähigkeit, weiträumige Operationen zu planen, erwies sich als entscheidender Vorteil.

Mit der Landung des Baltischen Korps von 10.000 Mann auf den Ålandinseln am 5. März trat das kaiserliche Deutschland in den Krieg ein. Am 13. April nahm es Helsinki. Ziel war es, Sowjetrussland zu schwächen, Finnland unter deutsche Hegemonie zu bringen und sich Rohstofflieferungen zu sichern. Die Waffenlieferungen an die finnische Armee und die Errichtung einer zweiten Front nahmen den Roten Garden jede Chance auf einen militärischen Sieg. Die Einsetzung eines Verwandten von Kaiser Wilhelm II. sollte den Einsatz krönen, doch die Novemberrevolution setzte dem geplanten finnischen Königtum ein Ende.

Mit der Einnahme von Tampere durch die finnische Armee am 6. April war der Bürgerkrieg faktisch entschieden, auch wenn sich die Gefechte bis Mitte Mai hinzogen. Die Roten Garden zogen sich in Richtung russischer Grenze zurück. Sie hatten bis zu 1.500 Gefallene und 12.000 Gefangene zu beklagen.

Die Kämpfe waren hart gewesen, und Gefangene konnten nicht damit rechnen zu überleben. Forschungen jüngerer finnischer Historiker belegen, dass etwa 1.500 Weiße, dahingegen aber bis zu 10.000 Rote zwischen Januar und Mai 1918 massakriert wurden. Im Sommer 1918 wurden etwa 70.000 Prozesse gegen die Roten durchgeführt. 555 Personen wurden zum Tode verurteilt, 113 hingerichtet. Die Durchschnittsstrafe belief sich auf zwei bis drei Jahre Gefängnis, die jedoch selten in voller Länge verbüßt werden mussten, sowie Aberkennung der bürgerlichen Rechte auf fünf Jahre. Es starben etwa 10.000 Gefangene an Hunger und der überall in Europa grassierenden Spanischen Grippe.

Kein Wunder, dass die Überlebenden nicht an die Schrecken des Krieges und der Nachkriegszeit erinnert werden wollten. Erst Jahre später begann ein Versöhnungsprozess, um die Spaltung des Landes zu überwinden. Der Bürgerkrieg blieb dennoch bis vor kurzem ein politisches Tabu in Finnland. Erst nach zwei Generationen begann dessen faire Aufarbeitung.

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Dazu noch ein Leserbrief, Neues Deutschland, 26.05.2008

110-jähriger Rotgardist

von Prof. Dr. Mario Keßler

Zu den finnischen Rotgardisten, die die Massaker der Weißen Garden überlebten, gehört Aarne Arvonen, geboren am 4. August 1897 in Helsinki. Er ist der letzte noch lebende Teilnehmer des Finnischen Bürgerkrieges.
In der Schlacht von Joutseno wurde er von Weißgardisten gefangen genommen und musste ein Jahr im Gefängnis verbringen. Danach war er zeitweise gezwungen, auf der Straße zu leben. Schließlich fand er ein knappes Auskommen als Zimmermann und konnte eine Familie gründen, lebte aber noch sehr lange in Armut. Bereits 1938 starb seine Frau.
Während des Spanischen Bürgerkrieges meldete sich Arvonen als Freiwilliger und schlug sich, fast ohne Geld, nach Barcelona durch. Dort konnte er nur noch die Niederlage der Republikaner beklagen. Er ging zurück nach Finnland, war zunächst auf Unterstützung durch die Quäker angewiesen und arbeitete dann bis zu seinem 80. Lebensjahr als Zimmermann.
Heute lebt der 110-jährige Arvonen in Järvenpää, 37 km nördlich von Helsinki, bei seiner Tochter und seinem Schwiegersohn. Er hatte nie die Chance auf eine akademische Bildung, war jedoch ein Leben lang naturwissenschaftlich interessiert und ist seit über sechzig Jahren Mitglied der Finnischen Vereinigung der Amateur-Astronomen.

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Kommentar von mir: Aarne Arvonen ist derzeit der älteste lebende Mensch Finnlands und der drittälteste Europas.
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